LeseLenzpreis der Thumm-Stiftung für Junge Literatur 2018


Wir freuen uns, Arne Rautenberg als Preisträger des "LeseLenz-Preises der Thumm-Stiftung für Junge Literatur" bekannt zu geben und gratulieren ihm herzlich. Der Preis wird für sein bisheriges Gesamtwerk vergeben und ist mit 5.000 Euro dotiert. Die Preisverleihung fand am Freitag, den 29. Juni 2018, zur Eröffnung des 21. Hausacher LeseLenzes statt. Die Jury, bestehend aus José F. A. Oliver, Ulrike Wörner und Finn Ole Heinrich, begründet ihre Wahl wie folgt:

 

„Wer das heutige Kindergedicht aufsuchen will, der lese Arne Rautenberg. Energiegeladen alltagspoetisch und berührend Mut machend. Vom Volksliedsound bis zum reduzierten Zeilenexperiment. Arne Rautenberg ist ein Lyriker, der Kindern und denjenigen unter uns, die das Kind in sich noch zu hüten wissen, Verse schenkt, die beseelen. Gedichte von ungebändigter Wortlust und umwerfender Wachheit. Einer der wenigen Lyriker deutscher Sprache, die es verstehen, mit spielerischer Präsenz Bilder, Rhythmen und ihre Formen aufs Vorzüglichste für Kinder zu entwerfen und zu Seh- und Klangkunstwerken zu inszenieren. Darüber hinaus ist er ein begnadeter Rezitator seiner eigenen Texte. Achtung! Seine sprachzauberische Poesieformel des Schreibens ist hochgradig ansteckend. Wider alle Unmündigkeit der Welt.“

 

 

Widerspenstig, wehrhaft, schön


Arne Rautenbergs Rede zum Leselenz-Preis für Junge Literatur

 

 

„Liebe Damen, liebe Herren,

 

der Wert des Gedichtes bemisst sich meines Erachtens darin, dass es Grenzen erweitert und motiviert, in Phänomene einzusteigen, die wir noch nicht bedacht haben. Weiter denken, weiter hinaus denken - - das sind die Skills, die gefragt sein werden in einer zunehmend komplexer agierenden Welt, in der natürliche Ressourcen ausgebeutet, sich die Realität mit der virtuellen Realität zu vermengen droht, in der globale Konflikte von nationalistischen wie irrational agierenden Herrschern geschürt werden, in der auf institutioneller Ebene vieles, was mit Literatur und Kunst zu tun hat, von fachfremden Entscheidungsträgern in den Verwaltungen zensiert, marginalisiert und missverstanden wird.

 

All das sind Entwicklungen, welche die Welt in ein dunkleres Fahrwasser ziehen. Hier gilt es Lösungen, Hauptwege und Nebenwege zu entwickeln, die vielleicht heute noch undenkbar sind. Und genau an diesem Punkt kommt die Kunst ins Spiel, die Literatur – als eine potentielle Ideenerweiterungsmaschine, als eine subversive, überholte Strukturen zersetzende - oder verlorene Strukturen regenerierende - Kraft wird sie, daran glaube ich fest, gebraucht.

 

Wo ansetzen? Ich denke: so früh wie möglich. Und ich denke: so breit wie möglich. Wir holen alle ab, wir nehmen alle mit, das ist meine Meinung. Denn wendiges Denken ist ein hohes Gut, welches im Schulkontext - wenn schon nicht im Mittelpunkt stehend, so doch punktuell durch Begegnungen mit Kunst in jedweder Form einen unverrückbaren Stellenwert haben sollte.

 

Literarische Initiation entwickelt sich weitgehend in der Kindheit und Jugend. Hier heißt es anarchische Angebote zu setzen, welche Schülerinnen und Schüler zum Nachdenken anregen und vielleicht übers Lachen ins Staunen einbrechen lassen. Warum die Dinge eigentlich so sind, wie sie sind – und: Wie können wir sie verändern? Die Säulen des Selbstverständlichen geraten für einen kurzen, im Nachgang reflektierenden Moment ins Wanken: Ja, der Papagei hat vielleicht eine Mamagei, die legt ein Ei, aus dem schlüpft mit großen Geschrei ein Babygei. Warum nicht Obst in einem Gruselgedicht auftreten lassen, immerhin haben wir die Blutorange, die Feige, die Zwetschge, die Drachenfrucht und die Stachelbeere – das ist doch ein wunderbares Personal. Oder – ist es nicht eigentlich völlig logisch, wohin die Nacktschnecken kriechen? Zum FKK-Strand. Oder, mein Sohn fragte mich, als er 6 Jahre alt war: Wie ist es denn so, wenn ich nicht mehr bin? Und als ich es ihm sagte, fiel ich in gebundene Sprache. Hier entwickelte sich, wie von Zauberhand, ein Gedicht, ich brauche es nur rasch aufzuschreiben. Oder ich breche, etwa bei einem Strandspaziergang, über ein gewöhnliches Fundstück, in die Tiefe ein:

 

 

was die miesmuschel meint

 

 

ist das nicht fies

dass ich so mies

bezeichnet bin?

 

naja ich mein

ist das nicht gemein

ne muschel zu sein

mit nur einem fuß

und ganz ohne bein?

 

von außen gesehn

ist mein miesmuschelhaus

nicht gerade schön

 

doch siehst du mich einst

beim strandspaziergang vielleicht

zerschlagen kaputt

schillert in mir das schönste

perlmutt

 

 

Wichtig ist, keinen betulichen Ton anzuschlagen. Wer sind wir, dass wir glauben, uns über Kinder erhöhen zu dürfen, nur, weil wir erwachsen sind. Picasso hat mal gesagt, er habe sein ganzes Leben gebraucht, um wieder malen zu lernen wie ein Kind. Vielleicht kann man noch einen Schritt weiter gehen: lernen, das tägliche Sein wieder so wahrzunehmen, wie ein Kind. Alles wie zum ersten Mal sehen. Das Selbstverständliche als etwas Ungewöhnliches begreifen, es (wieder) schätzen lernen – und damit seine Lebensintensität erhöhen.

 

Das ist der Dreh, der zeigt, was Poesie kann: Grenzen sprengen, erweitern, das Eigenste mit dem Entlegensten zusammen bringen oder anders gesagt, den begrenzten Horizont ans große Ganze anbinden, hier hängen wir am Tropf der Metaphysik und wittern ins Offene hinaus, was unserem Sensorium mehr Weitsicht verleiht als ein Blick vom Fernsehturm - -

 

Warum soll ausgerechnet ein Gedicht für Kinder weniger wert sein als ein Gedicht für Erwachsene? Vielleicht sind jüngere Menschen für das Umstürzlerische poetischer Ideen viel empfänglicher als die oftmals innerlich schon erstarrten Erwachsenen.

 

Erfreulicherweise werden Kindergedichte zunehmend vermehrt im Kontext der sogenannten Hochkultur wahrgenommen. Es gibt seit 2016 mit dem Joseph Guggenmos-Preis erstmalig einen Literaturpreis in Deutschland, der ausschließlich Kindergedichte auszeichnet. Oder nehmen wir zwei Beispiele aus der jüngsten Zeit: vor wenigen Wochen etwa ist in der Frankfurter Anthologie der FAZ das existentielle Gedicht „Viele Fragen“ vom Sams-Autor Paul Maar als ein Gedicht besprochen worden, welches, wie Kai Sina ausführt, „Fragen offenhält, Uneindeutiges hinnimmt und Schwierigkeiten aushält.“

 

Eine solche Besprechung an solch einem Ort ist wie ein Ritterschlag für die Gattung des Kindergedichts. Oder: Ich war neulich auf dem internationalen Poesie-Festival „Poetry on the Road“ in Bremen. Dort trat ganz selbstverständlich neben Cees Noteboom der Schweizer Kinderlyriker Franz Hohler auf. Genau so muss es sein!

 

Lassen Sie uns die Zweiklassengesellschaft in der Literatur abschaffen. Und den momentanen Schwung, der gerade die deutschsprachige Kinderlyrikszene durchweht, feiern! Denn Kinderlyrik oder Nicht-Kinderlyrik: Gedichte müssen gut sein, einen subversiven, leuchtenden Kern in sich tragen – und raus aus der staubigen Ecke. Wir müssen sie wieder als das wahrnehmen, was sie sind: charmante, auch leicht wahnsinnige Verführungen zum Nachdenken. Ein Blitzschlag mit offenem Ende, widerspenstig, wehrhaft und schön.

 

Ich danke sehr herzlich für die Verleihung des LeseLenz-Preises der Thumm-Stiftung für Junge Litertatur."

 

 

© Birgit Rautenberg
© Birgit Rautenberg

Arne Rautenberg im Porträt:

 

 

Arne Rautenberg, geboren 1967 in Kiel, lebt und arbeitet

nach dem Studium der Kunstgeschichte, Neuerer Deutscher
Literaturwissenschaft und Volkskunde an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als freier Schriftsteller und

Künstler in seiner Geburtsstadt.

 

Er schreibt Gedichte, Essays, Kurzgeschichten, Romane und arbeitet für verschiedene Feuilletons. Sein literarisches
Hauptbetätigungsfeld ist die Lyrik.

 

 

Seine Gedichte werden im deutschsprachigen Raum gelesen und sind in den einschlägigen Sammlungen vertreten (Reclams großes Buch der deutschen Gedichte, Jahrbuch der Lyrik). Er veröffentlicht in den großen Feuilletons und Zeitschriften (FAZ, Die Zeit, Akzente).Zudem tourt Rautenberg seit vielen Jahren mit ca. 70 Schullesungen und ca. 20 Lesungen für Erwachsene pro Jahr durch Deutschland, Österreich und die Schweiz.

 

Als Romancier hat Rautenberg im Jahr 2002 mit dem (Kiel-)Roman „Der Sperrmüllkönig“ bei Hoffmann & Campe debütiert. Überdies hat er in den letzten 20 Jahren mehr als 20 Werke in steter Folge veröffentlicht, zuletzt die drei ernsthaften Gedicht-bände „mundfauler staub“ (2012), „seltene erden“ (2014) und „nulluhrnull“ (2017), für die ihm die FAZ bescheinigte, er sei der „Apokalyptiker des Nordens“ und seine Gedichte seien „Höhepunkte aktueller Poesie“.

 

Doch Rautenberg veröffentlicht auch sehr erfolgreich Gedichtbände für Kinder. Zuletzt „der wind lässt tausend hütchen fliegen“ (2010), „montag ist mützenfalschrumtag“ (2013), „unterm bett liegt ein skelett“ (2016) und „rotkäppchen fliegt

rakete“ (2017). Der renommierte Peter Hammer Verlag unterstützt Rautenbergs Bestrebungen dabei vortrefflich.

 

Im bildkünstlerischen Bereich arbeitet Arne Rautenberg an der Schnittstelle zwischen Text und Bild meist mit großflächigen Schriftinstallationen, die ebenfalls überregionale Kreise ziehen; sie wurden etwa im Künstlerhaus Bethanien Berlin, in der Skulpturhalle Basel, auf der Weserburg in Bremen, auf Schloss Gottorf, im Künstlerhaus Wien und an vielen anderen Orten im In- und Ausland präsentiert. Zuletzt wurde das 400 x 400 cm große „Wall-Poem“ W I N D an einer Fassade der Fachhoch-schule Kiel angebracht. Rautenbergs künstlerische Arbeiten sind in bedeutenden Sammlungen vertreten (Schleswig-Holst-einische Landesmuseen Schloss Gottorf, Sammlung Reinking, Hamburg).

 

Seit 2006 ist Arne Rautenberg Lehrbeauftragter an der Muthesius Kunsthochschule Kiel. 2013 hatte er die Liliencron-Dozentur für Lyrik an der Christian-Albrechts-Universität inne. 2016 erhielt er mit dem Josef-Guggenmos-Preis den ersten Preis für Kinderlyrik, der je in Deutschland vergeben wurde. Im Herbst 2017 wurde Arne Rautenberg in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewählt.

 

Mehr über Arne Rautenberg finden Sie auf dessen Webseite www.arnerautenberg.de

 

Oder in diesem Interview, das er der Mittelbadischen Presse gegeben hat, das Sie hier lesen können.