Der LeseLenzpreisträger der Thumm-Stiftung für Junge Literatur 2022


© Stefan Haas Julienne Haas
© Stefan Haas Julienne Haas

Dirk Reinhardt ist LeseLenz-Preisträger des Jahres 2022

 

Die Thumm-Stiftung gratuliert Dirk Reinhardt und wünscht ihm für die Zukunft weiter viel Erfolg. Die Preisverleihung fand im Rahmen des 25. Hausacher LeseLenzes am 7. Juli 2022 statt. Der Preis ist mit 5 000 Euro dotiert.

 

Jury-Begründung:

 

Wenn sich eine Schicksalsgemeinschaft Jugendlicher aus den Armenvierteln Mittelamerikas aufmacht, um als blinde Passagiere in und auf Güterzügen in eine bessere Zukunft zu gelangen, wenn vom Leben in den afghanischen Bergen erzählt wird, wo ein Mädchen und ein Junge ins Visier der Taliban geraten und den gefährlichen Fluchtweg nach Europa antreten und wenn schließlich eine Gruppe junger Hacker es wagt, den kriminellen Machenschaften der Rohstoff- und Rüstungsindustrie den Kampf anzusagen, dann ist dies der Stoff, aus dem die Texte von Dirk Reinhardt gewebt sind. Reinhardts Schilderungen basieren auf eigenen Recherchen vor Ort, Begegnungen mit Geflüchteten und einschlägigen Netzinformationen. Daraus entstehen große bewegende Geschichten von politischer und gesellschaftlicher Relevanz – Geschichten, die so spannend sind wie dies Abenteuerromane und Thriller überhaupt sein können, und die zugleich ein raffiniertes Spiel mit literarischen Techniken und Bauformen inszenieren. Das ist Jugendliteratur im besten Sinn, auf der Höhe ihrer und unserer Zeit.

 

Hausach, im Juni 2022

 

Jury:

 

Ina Brendel-Kepser (PH Karlsruhe)

Ulrike Wörner (LeseLenz)

José F.A. Oliver (LeseLenz

 

 

Über die Gabe, Flügel zu verleihen

 

Laudatio für Dirk Reinhardt von Ina Brendel-Kepser

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde des LeseLenz, lieber Dirk Reinhardt,

 

„Gebt uns Bücher“, sagen die Kinder, „gebt uns Flügel“,1 heißt es bei Paul Hazard in seinem Text Kinder, Bücher und große Leute von 1952. Über diese Flügel und die Gabe, mit und durch literarische Texte Flügel zu verleihen, möchte ich heute Abend sprechen. Denn genau dies gelingt Dirk Reinhardt. Nähern wir uns dem Bild der Flügel zunächst mit einer großen, grundlegenden Frage.

 

Was ist gute Kinder- und Jugendliteratur (KJL)? Seit der Entstehung einer spezifischen KJL im 18. Jahrhundert hat diese Frage immer wieder Fachleute, Wissenschaft und Akteure der Vermittlung beschäftigt - mit wechselnden Akzentuierungen, historisch und soziokulturell bedingten Funktionszuschreibungen, abhängig von sich wandelnden Normen und Werten im Blick auf Jugend und Jugendkultur. Nicht zuletzt haben die Kinder- und Jugendlichen selbst ein Wort dazu zu sagen – Buchblogs, Booktube und Bookstagram legen ebenso wie Jugendjurys reichlich Zeugnis davon ab, was die Zielgruppe ganz konkret als gute Literatur einschätzt. Dirk Reinhardts Bücher zählen auf jeden Fall dazu.

 

Mit der Frage nach dem Wert von Kinder- und Jugendbüchern sind wir mittendrin im Handlungs- und Symbolsystem der KJL, in der Bücher von Erwachsenen für Kinder und Jugendliche geschrieben und an diese vermittelt werden. KJL wird daher als Zielgruppenliteratur bestimmt, wobei diese Zielgruppe in sich schon heterogen ist, in ihren Bedürfnissen, Interessen, ihren Sprach- und Lesefähigkeiten, von Lese- und LiteraturanfängerInnen bis zu medienaffinen Jugendlichen, die trotz und vielleicht wegen ihres mediatisierten Aufwachsens in einer Kultur der Digitalität oft auch begeisterte Leserinnen und Leser sind. Durch den besonderen Adressat*innenbezug ist KJL Sozialisationsliteratur und zugleich ist ihr damit eine Ambivalenz von Pädagogik und Pädagogikverweigerung, von Grenzüberschreitung und erzieherischer Funktion eingeschrieben. Widersprüche sind nicht immer aufzulösen, aber sie können produktiv bearbeitet werden. Dirk Reinhardts Werke belegen dies mit großem Erfolg.

 

Worin nun liegt dieser Erfolg? Ich möchte das Erfolgsmodell Dirk Reinhardt anhand von fünf zentralen Funktionen aufzeigen, die der Kinder- und Jugendliteratur zugeschrieben werden2 und die sein Werk durchgehend erfüllt. Man könnte also sagen, wollte man sich der Terminologie der Leserwertungen im Internet bedienen: 5 von 5 Sternen.

 

Erstens kommt der KJL eine Funktion in ihrem Unterhaltungswert zu. Gute Jugendromane verschaffen ihren Leser*innen Spannung, Evasion und Ablenkung im Miterleben aufregender Abenteuer. Und wir wissen ja: Spannung stellt eines der wesentlichen Lesemotive von Kindern und Jugendlichen dar, eine spannende Handlung kommt Leseinteressen unmittelbar entgegen. Reinhardts Geschichten leben allesamt von durchweg überzeugenden Spannungsbögen und der Frage danach: Werden die Helden es schaffen? Kommen die blinden Passagiere der Trainkids aus Mittelamerika auf den Zügen an ihr erhofftes Ziel? Werden sich Soraya und Tarke bei ihrer Flucht aus Afghanistan über die Berge und über das Meer jemals wiedersehen? Was passiert, wenn die Edelweißpiraten den NS-Schergen in die Hände fallen? Wie kann das ausgehen, wenn sich im Thriller Perfect Storm sechs jugendliche HacktivistInnen mit der NSA und den großen Konzernen der Welt anlegen? Solche Plots erzeugen atemlose Spannung und lassen die LeserInnen mitfiebern. Auf Spannung und Abenteuer setzt auch schon Dirk Reinhardts Erstleseliteratur, wenn in der Savanne die Tiere plötzlich verschwunden sind und Kinder sich aufmachen, die Wilderer zu stellen.

 

Zweitens – und damit komme ich zur entwicklungspsychologischen Funktion der KJL - befriedigen Jugendliche beim Lesen ihre Identifikationsbedürfnisse. Sie begegnen gleichaltrigen Protagonisten, versetzen sich in deren Denk- und Handlungsweisen und können diese zu sich selbst in Bezug setzen. So begegnen die Leser Gerle und Flint und nehmen an den heimlichen Treffen der Edelweißpiraten teil, spüren die innere Zerrissenheit derer, die aufbrechen müssen und wider Willen ihre Heimat verlassen, und auch die sechs jungen Menschen von sechs Kontinenten, die als Langloria Freedom Fighters im Netz aktiv sind, bieten in ihren extrem unterschiedlichen Lebenshintergründen und im Austarieren von Nähe und Fremdheit zum Eigenen hohes Identifikationspotenzial – wäre man nicht zeitweise selbst gerne Teil dieser mutigen und diversen Gilde? Von all diesen Schicksalen bewegt zu werden, erweitert menschliche Erlebnis- und Erfahrungsräume ungemein.

 

Drittens gereichen die Werke von Dirk Reinhardt in informatorischer Hinsicht den Wissensbedürfnissen ihrer jugendlichen LeserInnen zum Vorteil, denn sie liefern Informationen über historische, gesellschaftliche und politische Themen größter Relevanz.

 

Dies gelingt dem Autor, der selbst promovierter Historiker ist, durch präzise Recherchen, die ihn in Archive, nach Mexiko oder ins Netz führen, aber ebenso durch eingeholte Schilderungen aus Gesprächen mit jungen afghanischen Geflüchteten. Eingeflochtene Fakten machen den hohen Informationswert der literarischen Texte aus, den Dirk Reinhardt als literarischer Chronist mit seinen Nachworten und angehängten Glossaren nochmals verstärkt. Wobei die Erklärung von Fachbegriffen sich als extrem nützlich erweist. Denn wissen Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, was das alles ist? DDoS-Attacke, Defacement, Dekompilieren, Disassembler, DNS-Request oder Dumpster Diving.

 

Viertens: Genau solche historischen, sozialen, politischen und anthropologischen Zusammenhänge zeigt die KJL ihren LeserInnen in kritisch-reflektorischer Hinsicht auf. Dargestellt werden in Reinhardts Romanen zentrale politische Gegenwartsthemen, brutale Gegenwartsszenarien. Sie handeln von den Machenschaften der Rohstoff- und Rüstungsindustrie, von Menschenrechtsverletzungen und der Ausbeutung im Kongo. Sie erzählen von Flucht als Trauma der Menschheitsgeschichte und vergegenwärtigen die Erfahrung des unbehausten Menschen am Beispiel schutzloser Jugendlicher. Sie geben den aufmüpfig widerständischen Mitgliedern der historischen Edelweißpiratenbewegung einen Namen und ein Gesicht. Dirk Reinhardts Figuren sind fiktiv, aber angebunden an reale gesellschaftliche Zusammenhänge aus Vergangenheit und Gegenwart. Damit kommt dem Autor das Verdienst zu, das Genre der jugendliterarischen Authentic Fiction maßgeblich mit geprägt zu haben. Darin aufgehoben sind Denk- und Handlungsweisen, die bewegen und aufrütteln und, so die Hoffnung, kritisches Bewusstsein schaffen können angesichts unhaltbarer Zustände.

 

Ich komme zum fünften der fünf Sterne: KJL und mit ihr insbesondere die Romane von D. Reinhardt ermöglichen spezifisch ästhetische Erfahrungen. Denn KJL spricht jugendliche LeserInnen mit Sprach- und Darstellungsmustern an, die den Gefühls- und Denkwelten von Jugendlichen entgegenkommen. Zugleich schaffen Strategien lit. Verdichtung und Polyvalenz fließende Übergange zu Erwachsenenliteratur, was Dirk Reinhardt meisterhaft beherrscht.

 

Wenn sich Chat-Protokolle, transkribierte Tonaufnahmen und Auszüge aus dem Verlauf eines digitalen Spiel zu einer narrativen Inszenierung zusammenfügen, dann entsteht ein Roman, der in eine fiktive Rahmenkonstruktion eingespannt ist und wie ein Puzzle funktioniert.

 

Die dynamische Narration entwirft das Panorama einer digitalen, globalisierten Welt und lässt die LeserInnen tief darin eintauchen. Ebenso kunstvoll erzählt der Autor von historischen Begebenheiten, indem er zwei Erzählebenen in zwei Zeiten miteinander kombiniert. Im Genremuster des Roadmovies mit der lebensgefährlichen Reise an ein weit entferntes Ziel lässt Reinhardt den Jungen Miguel durchgehend im narrativen Präsenz erzählen, eine Erzählung, die immer wieder durch Rückblenden gebrochen wird und in Beschreibungen, Schilderungen und Szenen unterschiedliche Erzählhaltungen ausstellt. Das alles ist kunstvoll, gehaltvoll, großartig.

 

Im Vorwort des Kompendiums 1001 Kinder- und Jugendbücher. Lies uns, bevor du erwachsen bist! schreibt Christiane Raabe, Direktorin der Internationalen Jugendbibliothek: Gute Bücher „sind Bücher, die uns berühren und als Menschen bilden, die Perspektiven eröffnen und im beste Sinne des Wortes unterhalten.“3 Dieser Satz scheint wie für das Werk von Dirk Reinhardt geschrieben. Jedoch: Reinhardts Bücher kann und soll man lesen, bevor man erwachsen wird. Zugleich aber ziehen diese Geschichten eben nicht nur die eigentliche Zielgruppe in ihren Bann, sondern sind auch für Leserinnen und Leser jenseits des Jugendalters überaus lesenswert. Und dies hat, so glaube ich, mit dem Bild der Flügel zu tun, denn wir wie alle spätestens seit Ikarus wissen: Der Wunsch zu Fliegen ist ein Wagnis.

 

Als Wagnis gelten definitorisch4 sowohl die Charakterisierung einer gefährlichen Sachlage als auch die menschliche Einstellung, sich zu trauen, den Mut zu haben, etwas zu tun. Jedes Wagnis ist mit Unwägbarkeiten behaftet und wirft psychologische, philosophische und ethische Fragestellungen auf. Denn etwas zu wagen und vorher abzuwägen, was Gewinn und Risiko einer Handlung sind, orientiert sich an hochrangigen Zielen und einem Wertgewinn, mit dem die Wagnishandlung ethisch-moralisch vertretbar wird.

 

Reinhardts Figuren mit ihrem Wagemut sind reale Vorbilder eingeschrieben. Den jungen Flüchtenden, den Edelweißpiraten ebenso wie den jugendlichen Whistleblowern, die hinschauen und himmelschreiendes Unrecht anklagen. Nicht zufällig denken wir bei den Aktivitäten der Gilde an die Enthüllungen eines Edward Snowden, einer Chelsea Manning.

 

Das ist nicht nur waghalsig oder verwegen, sondern Reinhardt zeigt uns Figuren, die etwas wagen, indem sie einen Unterschied machen wollen. Auf die Frage aber, ob man für hehre Ziele Gesetze brechen darf, gibt der Text keine Antwort, sondern überlässt diese dem Leser/ der Leserin selbst.

 

„Wir müssen uns Ikarus nun als einen Whistleblower vorstellen“,5 schreibt ein Rezensent in der SZ. Dirk Reinhardt seinerseits schließt seinen jüngsten Roman mit den Worten: „Es gibt noch viel zu tun auf dieser Welt.“ Das ist ein Hinweis, ein Ausblick, eine Aufforderung.

 

Lieber Dirk Reinhardt, es gibt noch viel zu tun auf dieser Welt. Wie die Welt von morgen aussehen wird, hängt von denen ab, die es wagen, sich einsetzen. Ihre Bücher setzen dieses Wagnis ins Zentrum. Ihre Bücher geben dem Wagnis eine literarische Gestalt. Ihre Bücher sind die Flügel.

 

Vielen Dank dafür.

 

 

Verweise

 

1 Hazard, Paul: Kinder, Bücher und große Leute. Hamburg 1970, S. 24

2 Vgl. Lange, Günter: Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur. In: Lange, Günter (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 2. Baltmannsweiler 2005, S. 950ff.

3 Eccleshare, Julia (Hg.): 1001 Kinder- & Jugendbücher. Lies uns, bevor du erwachsen bist! Zürich 2010, S. 7.

4 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Wagnis_(Begriff)

5 https://www.sueddeutsche.de/kultur/thriller-der-sonne-so-nah-1.5214803